Ein Sternenschiff landete in Neuss, aber kaum einer fragte:

"Have You Seen the Saucers?"

von Axel Jost

Die Sprecher einer Generation? Die Jahrgänge der Nachkriegs-Baby-Boomer finden sie unter den Toten eher als unter den Lebenden: JOHN LENNNON, BOB MARLEY, JANIS JOPLIN, klar. Wen gab es da sonst - vor allem, wer von denen lebt noch? DYLAN, sicher. Und dann muß man anfangen zu suchen. Bald wird man dabei auf PAUL KANTNER stoßen, Chefpilot der JEFFERSON AIRPLANE seit deren Jungfernflugtagen Mitte der Sechziger. Agiler Autor von Songs, die das Lebensgefühl nicht nur seiner Altersklasse mitgeprägt haben. Lobgesänge auf die individuelle Freiheit; politische Statements, persönliche Willenserklärungen. "Crown Of Creation" stellte schon 1970 die unumgängliche Gleichzeitigkeit von Veränderung und Sich-selber-treu-bleiben in einen dialektischen Zusammenhang: "Life is change /... / new worlds to gain / my life is to survive / & be alive/ for you." Mutig das Bekenntnis zum Experiment in "Wild Tyme" von 1967: "I'm doing things / that haven't got a name yet". Titel, die das Unterfutter lieferten für die geistig-moralische Revolution der Blumenkinder: Sozialrevolutionär wie in "We Can Be Together"; engagiert gegen den Vietnam-Krieg in "Volunteers", (beide 1969). Dazu die Songs, auf denen eine mögliche Lebensalternative skizziert wurde, teils metaphorisch, teils ernstgemeint als Ausbruch aus den gegebenen Verhältnissen, sogar die Kaperung eines Raumfahrzeuges wurde propagiert ("Hijack", 1970).
Die aktuelle Paul Kantners "Jefferson Starship"-Inkarnation legte am 10. März 1993 eine Zwischenlandung in Neuss ein, um dem "Other Side"-Festival einen strahlenden Glanzstern aufzusetzen.

*

Das ist eine der guten Seiten an einer relativ kleinen Stadt wie Neuss - vom genreüblichen Rummel um Rockkonzerte keine Spur. Keine omnipräsente bösartig-brutale Security, keine angeberischen Tourmanager und ähnliches Volk, das sich wichtig machen will, indem es Journalisten, die auch nur ihren Job zu tun haben, zu Idioten stempelt. Und auch kein Hotelpersonal, das erstmal lügt und angeblich von nichts weiß. Ein kurzer Anruf von der VICTORIA-Rezeption aus in Pauls Zimmer und die Verabredung zum Essen stand. Hört sich locker an, aber finde einer trotzdem mal die richtigen Worte! Selten nur, ganz selten wird die Wahrheit über das geschrieben, was an Irrtümern, Mißverständnissen und Peinlichkeiten so alles passiert bei solchen Gelegenheiten. Da kennt man die Band seit den 60ern, hat man die letzten Tage nichts anderes gemacht, als in seiner Freizeit Jefferson-Platten zu hören und -Videos zu gucken, und dann fällt einem auf die Frage: "Du weißt wie ich aussehe?" nur die grunzdumme Gegenfrage ein: "Trägst du immer noch deine Brille?" Aah, bloß Schwamm drüber.

*

Nein, er sieht wirklich genauso aus wie auf den Plattencovern und Promo-Photos der letzten Jahre: Hageres Gesicht, schmale Lippen, blonde, etwas ausgedünnte Haartolle, fester Blick, randlose Brille. Kleiner, als man ihn sich vorstellt. Kommuniziert sofort mit der sprichwörtlichen Lockerheit des geborenen Westküstlers: "Vegetarisch Essen gehen? He, man kann alles übertreiben. Stellst du es dir denn schön vor, so richtig alt zu werden? Willst du deine letzten fünf Jahre tatsächlich in einem Rollstuhl durch die Gegend fahren?" Er jedenfalls weiß an diesem Spätnachmittag, wo er hinwill: gutbürgerlich. Wodka zum Essen. Der NEUSSER MONAT freut sich, einladen zu dürfen. Drei Seiten voller Fragen, beiseitegelegt. Der Walkman läuft, 90 Minuten lang.

*

Wir sprechen über die Mannschaft seines neuesten Sternenschiffs. Im Vorfeld der Tour hatte man zum Beispiel lesen können, daß GRACE SLICK "wegen häufiger Ausflipps" nicht an Bord genommen worden sei. "Unsinn" befindet der Kapitän. "Ich hatte sie vorher gefragt, aber sie wollte nicht. Es war ganz allein ihre Entscheidung. Sie widmet sich im Moment fast völlig irgendwelchen biomedizinischen Studien, die zum Ziel haben, künftig auf Tierversuche verzichten zu können." Die Beziehung zwischen ihm und der früheren Sängerin der AIRPLANE ist seit einigen Jahren wieder intakt: "Demnächst werden wir gemeinsam eine Sprechplatte aufnehmen mit Texten für Kinder, da werden Sachen von LEWIS CARROLL draufsein, aber auch von Grace Selbstgeschriebenes. Wird wohl bei RELIX-Records erscheinen. Wenn alles glatt läuft, machen wir danach auch noch eine Textplatte für Erwachsene." Und die angeblichen Ausflipps? "Quatsch, Grace ist seit Jahren völlig trocken und rührt keinen Tropfen Alkohol mehr an. Sie meint nur, daß sie derzeit musikalisch nichts mitzuteilen hat. Auch Angebote von Plattenfirmen lehnt sie regelmäßig ab." Freilich rechnet er fest mit einem Neustart der alten AIRPLANE: "Bis auf Grace hat im Moment jeder aus der alten Truppe unheimliche Lust darauf, und in einem, spätestens zwei Jahren ist es wieder soweit. Natürlich wird es dann die berühmten Kämpfe untereinander geben, aber der Kreativität tut es immer gut, wenn die Funken fliegen."

*

Dennoch ist Kantner auch im Moment musikalisch voll ausgelastet, so plant er zum Beispiel eine Platte mit der aktuellen Starship-Crew, die zuweilen auch in einer "Unplugged"-Konfiguration als rein akustisches Ensemble auftritt. Mit dabei ist SIGNE ANDERSON, die ja bekanntlich vor Frau Slick den Sängerinnen-Job bei der Airplane innehatte. Er arbeitet weiterhin an einem Projekt nur mit weiblichen Stimmen, darunter auch die Sängerin aus PETE SEEGERs alter Gruppe THE WEAVERS, eine Band, die in jungen Jahren sein größter musikalischer Einfluß war. Eine Jefferson-Starship-CD-Retrospektive wartet ebenfalls auf ihre Realisierung. Um seine Kinder CHINA, 22, und ALEXANDER, 11, ("sie sind beide gottseidank ziemlich normal") kümmern er (und Mutter Grace Slick) sich ausführlich. Dabei entdeckte Kantner die derzeitige Starship-Sängerin DARBY GOULD, die eine eigene Band hat: "China nahm mich auf eine Plattenpräsentation mit, wo sie mir ihren Freund vorstellen wollte, der Sänger in einer Rockband ist. Darbys Band war auch da, sie hatten einen kurzen Auftritt. Du siehst, die Musiker in San Francisco bilden immer noch so eine Art Gemeinschaft, und sie helfen sich gegenseitig wie wir damals in den Sechzigern. Naja, ich hörte Darbys Stimme, dann sah ich sie, und sofort war klar, daß sie wunderbar in unsere Mannschaft passen würde." Und Darby macht dieser Ersatz-Job als Clone von Grace Slick augenscheinlich großen Spaß: "Eigentlich wollte ich nicht, daß Darby die echten Grace-Sachen singt, aber sie hat sich durchgesetzt, denn seit den letzten beiden Shows bringen wir wieder 'Somebody To Love' und es haut prima hin. Sie singt aber auch Material, das zu ihr paßt und mit Starship-Songs nichts zu tun hat, wie etwa 'Women Who Fly' von NONA HENDRYX oder die Country-Folk-Ballade 'Love Has No Pride'. Wir entwickeln uns eben immer noch weiter, menschlich und musikalisch. Schau dir unseren alten Bassisten JACK CASADY an, der spielt besser als je zuvor. Er hat einen mächtigen wagnerianischen, ja faustischen Ton. Ein wahnsinnig guter Musiker. Wenn du heute abend zu unserer Show kommst, wirst du sehen, daß wir alles andere als ein Nostalgie-Verein sind."

*

Wir sprachen über typische Starship-Songs, vor allem diejenigen, die im Konzert zu erwarten waren. Passend zum Neusser Festival-Motto heißt es in "Ride the Tiger" von 1974: "We have something to learn from the other side". Was hatte es damit auf sich? "Die Idee geht zurück auf einen Ausspruch des ehemaligen FBI-Chefs J.EDGAR HOOVER. Der hatte den Kommunismus mit einem Ritt auf einem Tiger verglichen, du kannst niemals absteigen, ohne gefressen zu werden. Dem wollten wir zumindest den Idealismus der ursprünglich guten Idee entgegenhalten. In einem weiteren Sinne meint diese Zeile aber auch, insgesamt nicht so fundamentalistisch zu sein, Toleranz zu üben, anzuerkennen, daß man alles von zwei Seiten betrachten kann." Im von ihm gemeinsam mit DAVID CROSBY geschrieben "Wooden Ships" (1971) geht es um das Zurücklassen einer zerstörten Gesellschaft. Noch 1986 war dieses Stück NEIL YOUNG einen bissigen Kommentar wert, als er nämlich in "Hippie Dream" (zu hören auf Youngs neuer Scheibe "Lucky Thirteen") kategorisch befand, die hölzernen (Flucht)-Schiffe seien nur ein Hippie-Traum gewesen, und in Wirklichkeit habe sich alles um Drogen gedreht. "Das war mehr ein kleiner Film als ein herkömmlicher Song, ein 'Nach-der-Bombe-Film'", so Kantner bei unserem Gespräch. "Ich finde nichts Schlimmes daran, von Zeit zu Zeit mal abzuhauen und alles hinter sich zu lassen. Ich denke, Young hat seinen Song geschrieben, weil er über Crosbys kräftigen Drogenkonsum sauer war. Aber Neil ist ein guter Typ; ich sympathisiere sehr mit dem, was er über die digitale Aufnahmetechnik sagt. Digitalklang ist genauso irritierend wie Stroboskop-Lampen, die fortwährend an- und aus gehen."

*

Schon 1970 träumte Kantner auf dem Konzept-Album "Blows Against the Empire" davon, zur Jahrzehntwende 89/90 ein Raumschiff zu kapern, um mit 7000 Sympathisanten an Bord bis hinter die Sonne zu fliegen. War wohl nichts, oder? "Wir mußten den Text etwas abändern", schmunzelt der verhinderte Raumfahrer, "jetzt heißt es: 'das Schiff hätte bis 89/90 fertig sein müssen, aber die Regierung in Washington hat seit 1980 alles versaubeutelt'." Die Hoffnung auf einen unheimlich starken kosmischen Abgang hat er denn immer noch nicht darangegeben, aber er hofft auch auf neue Perspektiven für die gute Mutter Erde: "Im Moment haben wir Chaos, und das praktisch weltweit. Der Kommunismus ist zusammengebrochen, auch der Kapitalismus wird sich ändern müssen, wenn nicht die ganze Erde zerstört werden soll. Hoffentlich muß es nicht erst zu einem Atomkrieg kommen, bevor die Menschen einsehen, daß es so nicht weitergehen kann." Kann der neue Präsident in dieser Richtung etwas bewirken? "Die Probleme sind zu groß, als daß da ein einzelner Präsident groß etwas dran ändern könnte, ja, sie liegen wahrscheinlich sogar jenseits der Möglichkeiten der Politik. BILL CLINTON hat sicherlich ein gutes Herz, aber ihm fehlen die Werkzeuge, die Krise zu managen." Aber aus dem, was in Amerika gemeinhin unter Politik verstanden wird, hält sich der Starshipper ohnehin lieber heraus: "In der politischen Arena hast du es mit Politikern zu tun, und die sind alle korrupt und keiner sagt die Wahrheit. Nein, ich engagiere mich lieber in meiner Umgebung, versuche ein vernünftiges Leben zu führen, eins, das vielleicht als Beispiel für andere dient." Der Airplane-Mitgründer hält an den in der Flower-Power-Bewegung mühsam erkämpften Werten fest: "I have a dream / and I will not let it go!" rief er fast trotzig auf einem Album von 1983 aus, ein Satz, für den ich ihm seither persönlich dankbar bin, bildet er doch Maxime und Richtschnur für alle diejenigen, die nicht bereit sind, zugunsten materieller Güter oder ach so bequemer Anpassungsleistungen an eine immer konservativere Grundstimmung ihre Überzeugungen aufzugeben. "An seinen Träumen festzuhalten", so pflichtet er mir bei, "das ist eine ganz schön schwierige Sache. Vor allem, wenn du Kinder hast, wirst du am laufenden Meter gezwungen, Kompromisse zu schließen."

*

Nach dem Gespräch war es nicht mehr lang bis zum Beginn des Konzertes, und als wir kurz vor acht in der Halle wieder eintrafen, hatte sie sich nur unwesentlich gefüllt (400 Leute vielleicht), ein Zustand, der sich bis zum Ende der Show nicht wesentlich ändern sollte. Und dabei war die Neusser "San Franciscan Night" ein Erlebnis der besonderen Art - wenn man bereit ist, einige Abstriche zu machen: So war das PA-System wohl um Klassen besser als tags zuvor in Köln, aber zu einem wirklich befriedigenden Klang hat es auch in Neuss nicht gereicht. Die zur Musik verabreichte Lightshow mit den handgeschüttelten Farbschalen wirkte auf mich auch ein bisserl bieder und provinziell; der Versuch einer Nachbildung halt, das Original war es - im Gegensatz zur Musik - nicht. BIG BROTHER und ihre neue Sängerin MICHELLE BASTIAN mit der Figur und der Stimme einer Blues-Diva trumpften extrem spiel- und sangesfreudig auf, ebenfalls kein Oldie-Act, wahrlich nicht. In ihrem anderthalbstündigen Auftritt rockten sie los, was das Zeug hielt, und brachten neben viel frischem Material (auch hier ist eine neue Platte in Vorbereitung) die großen alten Hits wie "Piece Of My Heart" oder "Ball and Chain". Am Mischpult in der Saalmitte konnte man in der Dunkelheit einen munter mitswingenden Paul Kantner erkennen. Es spricht für das kleine, bunte, freundliche Neusser Publikum, daß es diese "Vorgruppe" ein ums andere Mal zwecks Zugaben auf die Bühne zurückholte.

*

Noch eine Stunde länger dauerte schließlich der Set der JEFFERSON STARSHIP, der mich vor allem durch seinen musikalischen Abwechslungsreichtum faszinierte: Vom Solovortrag (Kantner rezitierte Gedichte, die er während seines Aufenthaltes in Nicaragua kennengelernt hatte) über Zweier- und Dreierbesetzungen reichten die verschiedenen Konfigurationen bis zur "großen" 7-Personen Besetzung des kosmischen Projektes. Der gut 75jährige PAPA JOHN CREACH erzeugte mit seiner Geige Rhythmus pur und trieb damit jüngere Besucher in manische Tanzwut hinein. Alle die im Interview erwähnten Songs wurden von den entschlossen aufspielenden Westcoast-Veteranen gebracht, in meist langen, sehr modern und zeitgemäß wirkenden Fassungen - Verdienst nicht zuletzt der hervorragenden Begleitmusiker. Gegen Ende läuteten sie mit einer berauschenden Version von "The Other Side Of This Life", das schon 1967 in Monterey einer der Höhepunkte ihres Sets war, einen dem Neusser Festival-Thema angemessenen Schlußteil ein - der dann mit der Space-Hymne "Have You Seen the Saucers?" einen unübertrefflichen Höhepunkt fand.

*

Obwohl viele Besucher von der geringen Nachfrage gerade des heimischen Publikums enttäuscht waren, hielt sich den ganzen Abend eine prächtige Stimmung unter den oft von weither angereisten, teilweise schrill gekleideten Anwesenden; war man doch froh, seine alten Helden endlich einmal wieder so hautnah erleben zu dürfen. Zur guten Stimmung hatte auch die nahezu perfekt-freundliche Organisation durch das Kulturamt wesentlich beigetragen. Seit 1978 war das Starship nicht mehr in der Bundesrepublik gelandet ("Wir sind eine amerikanische Band, und es ist furchtbar schwer für uns, da einmal rauszukommen.") Noch viel länger ist es her, daß sich die Kantner-Truppe und der legendäre "Große Bruder" eine Bühne geteilt hatten: "Ich glaube, das war irgendwann in den 60ern im AVALON-Ballroom in San Francisco. Heute abend habe ich das Gefühl, gute alte Freunde wiederzutreffen" (Kantner).
So hatte die Stadt Neuss an jenem 10. März Musikgeschichte geschrieben, aber abgesehen von den sehr engagierten Organisatoren und wenigen einheimischen Konzertbesuchern war es ihr leider egal gewesen.

AJ